Ein Plädoyer für ein vereintes Europa
Europas historisches Desaster zur Stunde Null, im Frühjahr 1945. Ein Trümmer- und Gräberfeld umhüllt von giftigen Schwaden Ressentiments, Hass, Zorn, Rache. Wer will den Überlebenden dieses Massakers, den in ihrer Angst, ihrem Schmerz und Leid gefangenen Menschen, ihre Gefühle verdenken. Doch die Zeit kennt kein Verharren, sie interessiert sich nicht für die Befindlichkeiten von Menschen, sie bewegt sich in kontinuierlichem Rhythmus fort, mit oder ohne die sie temporär begleitenden Menschen. Nach einem solchen Exodus der Menschlichkeit, Vernunft, Verstand, jeder Art von Moral, brauchte es Visionäre, die einen Weg in eine praktikable, taugliche Zukunft aufzeigen. Europa verfügte über diese visionären Geister. Was für Motive sie, die Gründungsväter der Europäischen Union bewegten, waren sie nun pragmatischer oder idealistischer Art, ist ohne Belang, das Ergebnis war das bis dahin Beste, was dieser Kontinent jemals zustande brachte. Kaum 5 Jahre nach der Katastrophe beginnt im Westen, des zwischen den Machtblöcken aufgeteilten Europa, mit der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, die wirtschaftliche und politische Vereinigung der europäischen Länder zur Sicherung eines dauerhaften Friedens. Zu vermuten ist, dass der überstandene, doch in den Gefühlen der Menschen noch unbewältigte Leidensdruck, eine Konsolidierung des Kontinents mit stabilisierenden Rahmenbedingungen sich als einzig erfolgsversprechenden Weg anbot und auch so verstanden wurde. Die Völker dieses historisch- kulturellen Gebildes Europa mussten vor sich selbst beschützt werden.
Das, was nun folgte, ist erstaunlich und keineswegs so selbstverständlich, wie es heute erscheint. Menschen, Nationen, die sich noch vor 5, 6 Jahren unversöhnlich gegenüberstanden, die Verbrechen in verblendeter Ideologie verübten und jene, die sie erdulden mussten, kooperierten miteinander. Vorläufig beschränkte sich die Annäherung auf eine praktisch, symbolische wirtschaftliche Kooperation. Die kriegswichtigen Schlüsselindustrien Kohle und Stahl wurden instrumentalisiert, in eine europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl eingebracht, ein Symbol und erster Verzicht staatlicher Souveränität, zugunsten von Versöhnung und Frieden. Unter dem Druck der Spannungen zwischen Ost und West, einer realen Beurteilung des weltpolitischen Rankings autonomer europäischer Staaten, folgten im Laufe der Jahrzehnte weitere Verflechtungen, die in die heutige Europäische Union führten.
Es waren alles realpolitische Entscheidungen, keine emotionale Verbundenheit der Völker bahnte dieser Union den Weg. Ob eine wirkliche Aussöhnung der Kriegsgegner jemals stattfand, ist zu bezweifeln, ein zeitweiliges Vergessen vielleicht. Ob es ohne das Ost-West-Konfliktpotenzial zu einer solchen homogenen, stabilen Union, gekommen wäre, bleibt ebenfalls dahingestellt. Es ist allerdings zu bezweifeln, dass der Verursacher und Verlierer des letzten Weltkrieges, Deutschland, ohne eine solche wirtschaftliche Harmonie mit seinen Nachbarn, diesen ökonomischen Aufschwung, auch als Wirtschaftswunder bezeichnet, zu Wege gebracht hätte. Es ist auch zu bezweifeln, dass Europa ohne seine Union, die Herausforderungen und Risiken des 20. Jahrhunderts bis heute, einschließlich der Konsolidierung des Kontinents nach dem Zerfall des Ostblocks, in dieser verträglichen Weise bewältigt hätte.
Die Europäische Union ist eine Erfolgsgeschichte, ohne Wenn und Aber. Gemessen wird ein Erfolg am erreichten Ziel, weniger an seinem Zustandekommen – und das sind siebzig Jahre Frieden, wirtschaftliche und soziale Standards, die bei aller berechtigter Kritik, weltweit Maßstäbe setzen. Was spielt es denn für eine Rolle, ob die Europäische Kommission nun die Krümmungs-radien von Bananen normiert und was den Brüssler Bürokraten noch so an Albernheiten einfiel, nehmen wir es mit Humor, lachen wir gemeinsam. Bewältigen wir auch gemeinsam die derzeitigen und kommenden Krisen dieser Welt. Sie werden kommen und kein Wilders, keine Marine Le Pen, kein Johnson, keine AfD verfügen über schlüssige Konzepte wie ihre Länder, diese unbedeutenden Kleckse auf dem Globus, in einem zerstückeltes Europa, ohne stabile Koalitionen, irgendein elementares Interesse ihres Landes global durchsetzen könnten. Es sind allesamt visionäre Dilettanten, perfide Verführer ihrer Wähler und letztendlich Vasallen einer globalen Macht, sei es nun Russland, Amerika oder China, den verbleibenden Global Players, wird Europa auf dem Altar nationalistischer Einfältigkeit geopfert. Dem europäischen Wahlvolk sollte diese Metapher zu denken geben: Wenn es dem Esel zu wohl wird, geht er aufs Glatteis. Beleben wir lieber dieses Europa, es ist unser Kontinent und die gemeinsame Wiege unserer Identität bei aller Verschiedenheit, die uns zu trennen scheint. Gestalten wir dieses Europa offen und frei, ein Gebilde, das sich lieben lässt, es wird sich lohnen.
Klaus Schneider Februar 2017