Einsichten über das Verlangen

 

Ein Charakter, welcher sich so weit kultiviert hat, um mehr an dem Schein, als dem Stoff der Dinge eine geistige Freude findet, der ohne Wert auf deren Besitz, aus der bloßen Reflexion über die Erscheinungsweise der Dinge, eine tiefe Zufriedenheit empfindet, ein solcher Charakter trägt in sich selbst eine, befriedigende, tiefe innere Fülle des Lebens. Weil eine solche Wesensart, die Dinge, an denen sie Freude hat, nicht zu besitzen braucht, die es nicht für nötig erachtet, sich die Gegenstände anzueignen, in denen sie lebt, so ist auch das Risiko gering, diese durch äußere Einwirkung wieder zu verlieren.

Doch invariable Denkmuster, entliehen profaner Begrifflichkeit, untergraben solche exzellenten Einsichten und mögen sie noch so tiefgründig sein. Der Schein verlangt, früher oder später, nach einem Körper, er sollte sich zu seiner Wertschätzung realisieren, sich also greifbar materialisieren. Ein lediglich ideelles Arrangement mit dem schönen Schein, signalisiert der Erkenntnis einen offensichtlichen Mangel und damit ein unbefriedigtes Bedürfnis nach dem Dasein des fiktiven, schönen Scheins. Das Naturell des Menschen ist primär auf reale, begreif- und nutzbare Habe, ausgerichtet, ohne die er auch nicht existieren kann, und sei dies nur Nahrung und Obdach.

Es gilt aber nun zu differenzieren, ob wir ein ideelles Verlangen nach imaginären, lediglich die seelische Gestimmtheit erhöhenden, schönen und guten Dingen fühlen oder ob wir verlangen das die real existierenden und existenziell notwendigen Dinge gut und schön seien. Das Erstere können wir nicht fordern, der Wunsch danach sollte am ideellen schönen Schein seine Erfüllung finden als an dessen materieller Verwirklichung. Ein Wunsch, verschoben in die anregende, die Sinne stimulierende Fantasie, kann weitaus erfüllender sein als dessen Verwirklichung. Dagegen ist das Verlangen, dass die real existierenden und existenziell notwendigen Dinge gut und schön seien, ein substandiierter Wunsch, ein berechtigtes, natürliches Verlangen, dessen Erfüllung den ganzen Einsatz der Lebensenergie lohnt.
(Reflexion einer Passage aus Friedrich Schillers „Über das Erhabene“)

Klaus Schneider Februar 2020

Der Wille zur Würde

 

Die Gesamtheit der seelischen Empfindungen und der daraus möglichen Inspirationen und Fantasien definiert die psychische Disposition eines Menschen und per se, seine individuelle geistige Substanz. Diese steht in direkter Abhängigkeit mit dem Arrangement, das der Mensch mit den, sein Leben bestimmenden Umständen, getroffen hat. „Kein Mensch muss müssen“, sagt der Jude Nathan in Lessings Gedicht. Doch das Leben ist voller Zwänge, deren Akzeptanz das virtuelle Gedeihen einer Existenz protegieren. Das heißt dann oft aber auch, den eigenen Willen, die Würde, die geistige Kompetenz mit Bewusstsein vernünftig zu handeln, zu kompromittieren und sich so selbst seiner individuellen Würde zu berauben. Die Resignation des eigenen Willens vor einem, vermeintlich existenziell unabdingbarem Verhaltenskodex, substanzloser, trivialer, materieller Art, ohne ethische Substanz, ist eine charakterliche Bankrotterklärung. Diese ist weit schlimmer und tief greifender als ein materieller Ruin es je sein kann. Was stellt ein Mensch dar, den lediglich ein gefälliger Schein auszeichnet – eine würdelose Kreatur ohne Stolz und eigenen Wert. Da nützt alle Schönrederei, alle gefällige Interpretation nichts, denn nicht die Hülle, sondern das Innere definiert den Wert eines jeden menschlichen Wesens, erhebt oder erniedrigt es bis zur Belanglosigkeit.
Klaus Schneider Februar 2020