Es wäre nicht richtig, Menschen, die andere Meinungen vertreten als der Mainstream sie vorgibt, vorzuwerfen, sie bestreiten oder ignorieren die „Wahrheit“. Denn welche Wahrheit ist gemeint, die gemeinhin als verbindlich angesehen wird? Macht die Mehrheit der Zustimmung eine Wahrheit wahr? Ist es dann wirklich noch diejenige, welche die Übereinstimmung von Aussagen oder Urteilen mit einem verifizierbaren Sachverhalt, einer empirischen Tatsache oder der Wirklichkeit im Sinne einer korrekten Wiedergabe, bezeichnet?
Allein schon diese Forderung von Übereinstimmung der Aussagen oder Urteilen mit einem Sachverhalt, einer Tatsache oder der Wirklichkeit, im Sinne einer korrekten Wiedergabe ist problematisch. Da finden sich zunächst einmal ziemlich viele anspruchsvolle Begriffe, die alle auf ein grundsätzliches Dilemma hinweisen – die Unmöglichkeit ihrer verbindlichen Definition in all den autark tätigen Gehirnen der Menschen. Das aber wäre eine grundsätzliche Bedingung einer objektiven Wahrheitsfindung. Da aber faktisch ausgeschlossen ist, dass alle Individuen zu jeder Zeit synchron empfinden, wahrnehmen und denken, werden wir auch nie über das Identische reden können. Ein Konsens der Denkansätze, des Wissens, der unbedingten Basis einer akzeptablen Verbindlichkeit von Wahrheit, wird immer nur marginal gegeben sein, außer sie liegen im Bereich naturwissenschaftlich verifizierbarer Aussagen, welche nur für eine kleine Anzahl Menschen nachvollziehbar sind. Diese Schwierigkeit kompensiert sich im Allgemeinen damit, dass der Mensch in dem ihm eigenen geistigen Phlegma, die eigene, ihm mögliche Erkenntnis außer Acht lässt und die Wahrheit anderer adaptiert. Ob die anderen nun klüger sind oder nur lauter schreien, ihre Argumentation verständlicher darlegen oder eine erdrückende Mehrheit stellen, wird dabei selten hinterfragt.
Ein, pragmatisch betrachtet, durchaus brauchbares Vorgehen, um die eigene Unzulänglichkeit zu umgehen und eine für sich brauchbare Wahrheit zu generieren. Nur stellt sich das Problem: Diese „Wahrheit“ ist nicht „Wahrhaftig“ im Sinne einer individuellen, als richtig ausgezeichneten Auffassung nach eigenen verifizierbaren Erkenntnissen, Erfahrungen und Überzeugungen. Sie taugt keinesfalls dazu, den anderen, den Andersgläubigen, die sich der gleichen Wahrheitsfindung bedienen, ihre Wahrheit abzusprechen, denn wenn die Wahrheit als Glaubensdogma oder nach dem Mehrheitsprinzip festgelegt wird, ist sie nicht wahrhaftig, sie taugt zu nichts. Das gilt für jede Wahrheit, egal welcher Standpunkt dieses diffizile Abstraktum für sich in Anspruch nehmen möchte.
Klaus Schneider Januar 2022
Buchvorstellung: Menschliches zwischen Sein und Schein
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