Der Philosoph Karl Popper schrieb 1945 über das Paradox der Toleranz, dass uneingeschränkte Toleranz mit Notwendigkeit zum Verschwinden der Toleranz führt. Denn, wenn wir nicht bereit sind, eine tolerante Gesellschaftsordnung gegen die Angriffe der Intoleranz zu verteidigen, dann werden die Toleranten vernichtet werden und die Toleranz mit ihnen. Toleranz ist per se nicht wehrhaft, da es scheinbar ein Widerspruch in sich ist, wenn Toleranz die Intoleranz nicht toleriert.
Ist das so? Zunächst einmal, die Toleranz als Ideal gesetzt, ja. Ja, wenn die Menschheit aus überwiegend mit vernunftbegabten, vernünftig handelnden, kognitiv leistungsfähigen, altruistisch handelnden, Individuen bestehen würde. Individuen, die der Grundhaltung, des von Popper begründeten, kritischen Rationalismus verbunden sind. Dieser kritische Rationalismus geht davon aus, dass ich mich irren kann, dass, andere recht haben können und dass wir zusammen vielleicht der Wahrheit auf die Spur kommen werden. Zusammenfassend, einem Menschenbild entsprechend, das ebenfalls als ein, lediglich denkbares, Ideal angesehen werden muss.
Doch Ideale stellen nun mal keine Realitäten dar, sie sind Gedanken Konstrukte, die abstrakte Darstellung einer Idee, die nur als vollkommenes Ideal in der Vorstellung existiert. Es handelt sich daher um ein anzustrebendes, jedoch, ein nie zu erreichendes Urbild. Das Ideal steht konträr zu realen Gegebenheiten, so muss auch die Toleranz, will sie in der Realität wirken, sich von ihrem theoretischen Ideal lösen um in einem praktischem, selbsterhaltenden Rahmen zu wirken. Sich den Gegebenheiten anpassen, welche sie zum einen zu einem hohen, schützenswerten Gut erhebt, zum anderen der Intoleranz als wehrloses, missbrauchtes, moralisches Vermögen zur Hegemonie verhilft um dann in Folge als gefährliches, subversives Gedankengut eliminiert zu werden.
Toleranz benötigt einen klar definierten Rahmen, um zur Blüte ihrer Möglichkeiten zu gelangen. Möglichkeiten, die der Menschheit fast grenzenlose Entfaltung ermöglicht. Toleranz ist die ideelle Basis für Freiheit, Gleichheit und geistiger Entwicklung. Werte, die jedoch nur ihre Kraft entfalten, wenn alle von ihnen partizipieren können. Wenn Toleranz missbraucht wird, um der Intoleranz den Weg zu ebnen, werden mit diesem Paradigmenwechsel die Freiheit, die Brüderlichkeit, die Gleichheit und auch die Leistungsfähigkeit des menschlichen Geistes ein kümmerliches Dasein fristen.
Denjenigen Bestrebungen, die Toleranz lediglich zur Machterlangung missbrauchen, ist aufgrund dieses Ansinnens jeglichen Anspruch auf Toleranz kategorisch abzusprechen. Dieses ist moralisch vertretbar und auch logisch begründbar, denn mit dem Auslöschen der Toleranz stellt diese keinen Wert mehr dar, sie kann von Niemandem mehr in Anspruch genommen werden. Braucht es noch mehr Gründe, Toleranz mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln zu verteidigen, auch unter Zuhilfenahme der Intoleranz gegenüber den Intoleranten? Wenn Toleranz erst einmal keinen Wert mehr besitzt, wird es viel Leid, Kraft und Tränen kosten, sie wieder in einer Gesellschaft zu installieren.
Klaus Schneider März 2024